Vor 60 Jahren gelang der Durchstich beim San Bernardino-Tunnel. Die Schweizer Autobahn N13, die am Bodensee beginnt und bis zum Lago Maggiore führt, wurde zu einer wichtigen Transitstrecke. Zum ACE-Jubiläum sind wir von Chur über San Bernardino an den Lago Maggiore gefahren. Am Wegesrand haben wir Geschichte und Geschichten entdeckt.
Am 10. April 1965 wurde Licht. Eine Jahrmillionen alte Barriere aus Fels war durchbrochen. Es gelang der Durchstich im San-Bernardino-Tunnel, der zwei Jahre später dem Verkehr übergeben wurde.
Im Schweizer Kanton Graubünden gab es damit eine ganzjährige Straßenverbindung hinüber auf die andere Seite des Passes, ins Misox-Tal. Italien lag nun in hörbarer Nähe. Denn südlich des Passes ist Italienisch die vorherrschende Sprache.


So mancher Käfer, der bisher oben am Pass qualmend der Anstrengung erlegen war, gelangte nun weit eleganter ins südliche San Bernardino. Die Schweizer Autobahn N13 wurde neben dem Brenner und dem Gotthard eine der wichtigsten Straßenverbindungen ins gelobte Land, wo die Verheißung lag.
Auch 60 Jahre später ist die N13 eine Asphaltlebensader für all jene, die schnell den oberitalienischen Seen zustreben. Wer es aber gemächlicher angehen lässt, entdeckt ikonische Orte am Wegesrand.
Bei Rhäzüns: Kirchliches Kleinod im Wald
Schon nordöstlich von Rhäzüns, in der Nähe von Chur am Hinterrhein, versteckt sich ein Kleinod: Die Kirche Sogn Gieri liegt versteckt im Wald. Sie wurde im 14. Jahrhundert im romanischen Stil auf den Resten einer karolingischen Saalkirche gebaut mit hochgotischen Fresken an den Wänden. Eine beredte Stille empfängt die Gäste, es ist ein Platz von ganz eigener Atmosphäre!

Faszinierende Fresken: Die Kirche Sogn Gieri aus dem 14. Jahrhundert.
Im Domleschg: Viele Burgen an der Via Mala
Das ganze Gebiet Domleschg ist reich an Burgruinen wie die Burgen Oberjuvalt und Hohen Rätien. Das Gebiet war schon immer ein Durchzugsgebiet. In römischer Zeit führte der Weg an der Burg Hohen Rätien in schwindelnder Höhe vorbei und durch die Via Mala.
Man stelle sich einen kaum gesicherten Weg über der Schlucht des tosenden Wassers vor, schwankende glitschige Holzstege, schwer beladene Mulis und Pferde. Jahrhunderte waren hier die Säumer unterwegs, die mit Maultieren Salz und Wein über die Pässe transportierten. Viele bezahlten mit dem Leben.
Erst im 18. Jahrhundert errichteten Transportgesellschaften “Porten”, kühne steinerne Bogenbrücken, wie hier im Bild. Eine dieser Brücken hat Goethe in einer Bleistiftzeichnung verewigt.


Zillis: Weltweit einzigartige Kirche
Beim „bösen Weg“ war stets auch der Teufel im Spiel, und ihm konnte nur eine Macht entgegengesetzt werden: Gott! St. Martin in Zillis ist ein besonders ungewöhnlicher Gottes-Ort. Von außen ist die Kirche eher unauffällig. Aber ihre bemalte Holz-Kassettendecke ist weltweit einzigartig. Sie enthält 153 Bilderfeldern aus dem 12. Jahrhundert.

Bevor man die Kirche besichtigt, sollte man sich unbedingt das Museum anschauen, das sehr lebendig diese Bildersprache des Mittelalters, das damalige Weltbild, Maltechniken und Farbauftrag erläutert. Ein Stichwort? “Das Böse zeigt sich im Profil”, besagt eine der Erläuterungen. Sie meint, dass in vielen Abendmahldarstellungen Judas im Profil mit Hakennase und dunklem Haar dargestellt ist. Auch bei Tiersymbolen gilt: Wer sein Profil zeigt, hat die Rolle des Bösen übernommen.
Die Bilder stammen wohl nicht von einem Kirchenmaler, sondern eher von einem Buchmaler, der seinen Figuren einen ungeheuren Ausdruck und Bewegung verliehen hat — die ganze Welt des Mittelalters hier in dieser entlegenen Dorfkirche vereint.
Andeer: Schöne Patrizierhäuser
Andeer ist ein schmucker Ort, der jahrhundertelang den Passverkehr Richtung Splügen- und Septimerpass kontrollierte. Der Reichtum des Ortes hat ihm einige sehr schöne Patrizierhäuser eingebracht. Wenige Kilometer südlich endet das gefällige Tal, die Berge rücken eng zusammen und wieder ist es eine Schlucht, die Geschichte gemacht hat.
Roffla-Schlucht: Die rührende Geschichte des Wasserfalls
Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war das Gasthaus Roffla die einzige Einkehr an der Straße nach Italien. Die Wirte lebten recht gut, doch dann kam 1882 die Eisenbahn, der Warenverkehr ließ nach und mit dem Bau weiterer neuer Alpenstraßen versank das Gasthaus in der Vergessenheit.

Der junge Mathias Pitschen Melchior sah sich gezwungen, nach Amerika auszuwandern und hart zu arbeiteten. Zufällig traf Mathias auf einen reichen Engländer, der für eine Amerikatour zu den Niagarafällen einen Diener suchte. Der junge Schweizer nahm den Job an und war beeindruckt: vom stürzenden Wasser, aber mehr noch war er verwirrt darüber, dass man mit einem Wasserfall Geld verdienen konnte – dank der vielen Touristen.
Mathias kehrte mit seiner Frau und den drei Kindern heim — beseelt von einer Idee: Er wollte den Wasserfall freilegen, den er als Kind immer gehört hatte. Die Familie begann sich mit Spitzhacke und schließlich mit Sprengstoff durch den Fels zu bohren. Nach sieben Jahren und 8000 Sprengladungen war es geschafft! Das Gasthaus erfuhr eine Renaissance.

Bis ein neuer Verkehrsweg der Rofflaschlucht zum Verhängnis wurde: die Eröffnung eben jener N13. Umso mehr ist die Schlucht heute ein Unikum, der Gasthof irgendwie aus der Zeit gefallen.
Durch ein Mini-Museum gelangt man heute auf einen Fußweg, bis zur Schlucht, wo Wasser in türkise Gumpen stürzt und man direkt unter dem Wasserfall stehen kann!
Splügen: Typische Walserhäuser und gewaltige Bürgerhäuser
Es ging immer um menschliche Anstrengungen und um Demut, denn das Leben zwischen hohen Bergen ist beschwerlich und gefährlich. Wie in Splügen, der Welt des Corriere di Lindo. Der Lindauer Bote oder auch mal Mailänder Bote war ein Transportdienst zwischen Lindau und Mailand. Vom Anfang des 12. Jahrhunderts bis etwa 1825. Für Waren, Post und später auch Reisende. Etwa 325 Kilometer, die man, wenn es gut ging, in fünf Tagen bewältigen konnte.

Splügen war ein Etappenort. Wo es keine Warenniederlegungen gab, brachte man die Saumlasten in die eigenen Häuser, der Grund weswegen die Häuser in Splügen so gewaltige Portale haben. Die lokale Oberschicht lebte gut vom Handel. Im 18. Jahrhundert zogen einflussreiche Familien nach Splügen — die bekannteste war die Familie Schorsch.
Während im unteren Dorfteil typische Walserhäuser das Bild dominieren, sind es im oberen Dorfteil gewaltige Bürgerhäuser voller Würde. Und hoch oben thront das Hotel Weiss Kreuz, ein magischer, zeitloser Ort, der aufzeigt, was wirklich im Leben von Wert ist.
Der San-Bernardino-Pass: Magisch schöne Landschaft
Wir lassen nun den Tunnel außen vor und gelangen in eine der beeindruckendsten Passlandschaften der Alpen: als hätte eine Riese Felsbrocken über moorige Wiesen, Flechten und Moose gestreut. Das Hospiz auf der Passhöhe von 2065 Metern hat schon bessere Zeiten gesehen, die Landschaft ist magisch schön – so wie auch der Talblick von der Burg in Mesocco!

Der Blick vom San-Bernardino-Pass in den Süden ist beeindruckend.
Hier beginnt das Misox, eines der vier italienischsprachigen Täler Graubündens. Zwischen Viganaia und Spina windet sich die Straße rund 400 Höhenmeter hinab, man gelangt auf die “zweite Etage”. Mesocco, der Hauptort im Tal, liegt nur noch auf rund 750 Metern, gerade einmal 14 Kilometer von San Bernardino entfernt! Auch hier säumen schöne Bürgerhäuser die Straße, der Logenplatz ist natürlich die Burg!

Die gewaltige Festungsanlage der Burg von Mesocco.
Die Herren de Sax übernahmen eine mittelalterliche Anlage im 12. Jahrhundert und bauten sie zu einer Feudalburg aus. Im 15. Jahrhundert wurde sie so stark befestigt, dass sie als uneinnehmbar galt. Ein Chronist bemerkte, dass höchstens Aushungern oder ein Verräter die Burg zu Fall hätte bringen können. Die Herren de Sax waren es selber, die „die Uneinnehmbare“ 1525 schleifen ließen, damit die Mailänder sie nicht als Stützpunkt nutzen konnten.
Der Ausblick über das Tal ist phantastisch, die Vegetation wird mediterran, Feigenbäume gedeihen, der Talgrund wird breiter und gefällig, das Tal öffnet sich hin zum Ziel, dem Lago Maggiore.
Das Misox: Tal der Grotti
Das Misox ist das Tal der Grotti: ehemals kühle Keller, in denen Wein und verderbliche Ware gelagert wurde. Heute sind Grotti einer Straußwirtschaft vergleichbar Eine Karaffe Merlot steht wie durch Zauberhand auf dem Tisch, ein Weißer gleich dazu: Bianco d ´Oro aus der Kerner Traube. Es folgt eine Platte mit Luganighette, Salame und Prosciutto.

Eine Versuchung dieser Misoxer Schinken! Er wird gesalzen, gewürzt und in Wein eingelegt. Dann wird er rund fünf Tage zum Trocknen an die Luft gehängt und schließlich reift er 14 Monate bei 75 Prozent Luftfeuchtigkeit und 12 Grad. Auch der Nostrano, also der “unsrige“ Käse ist ungeheuer würzig – eine Platte unter der sich eigentlich der Tisch biegen würde. Deshalb haben die Tessiner wahrscheinlich solche stabilen Tische!
Der Lago Maggiore: Ein Bugatti geht baden
Noch auf der Schweizer Seite des Lago Maggiore wurde ein Bugatti Opfer des Zolls. Drei sündhaft teure Bugattis kamen Ende der 1920er Jahre in die Schweiz, gekauft von einem Schweizer Importeur. Zwei wurden von den Kunden abgeholt, für einen wurde kein Importzoll bezahlt. Woraufhin die Zollbehörde in Ascona nach einigen Jahren keine Lust mehr hatte und den Wagen 1937 kurzerhand im See versenkte.
Das Auto war zuerst ein Mythos, aber Sporttaucher entdeckten ihn Ende der 1960er Jahre und dann wurde er ein Hotspot für Taucher. Und im Sommer 2009 wurde er aus dem See gezogen: der schöne Bugatti Brescia Typ 22 von 1925. Geborgen von einer Stiftung.

Der 22-jährige Student Damiano Tamagno war im Februar 2008 beim Karneval in Locarno zufällig und ungewollt in eine Schlägerei geraten und getötet worden. Die Eltern gründeten daraufhin eine Stiftung, die sich der Gewaltprävention bei Jugendlichen widmet und betroffenen Familien hilft. Und der Vater, Maurizio Tamagnio, kam auf die Idee den Bugatti im Lago Maggiore zu bergen und damit auch für die Stiftung zu werben.
Das Auto war natürlich auch völlig verschlammt. Tauchfreunde von Maurizio Tamagni gruben es quasi aus, der See wollte es nicht loslassen. Am Ende resignierte aber auch ein Bugatti vor einem Kran. Der Bugatti wurde 2010 für um die 250.000 Euro versteigert – viel Geld für eine Wasserleiche und viel Geld für die Stiftung.

Damals wie heute bleibt der Lago Maggiore Sehnsuchtsort. Dank dem San Bernardino in greifbarer Nähe!