EuropaEin Road­trip an den Lago Maggiore 

Fotos: Nicola Förg, Imago/Westend61/Peter Seyfferth/argum, Picture-Alliance/akg/ Bildarchiv Steffens

Vor 60 Jahren gelang der Durch­stich beim San Bernar­dino-Tunnel. Die Schweizer Auto­bahn N13, die am Bodensee beginnt und bis zum Lago Maggiore führt, wurde zu einer wich­tigen Tran­sit­strecke. Zum ACE-Jubi­läum sind wir von Chur über San Bernar­dino an den Lago Maggiore gefahren. Am Weges­rand haben wir Geschichte und Geschichten entdeckt.

Am 10. April 1965 wurde Licht. Eine Jahr­mil­lionen alte Barriere aus Fels war durch­bro­chen. Es gelang der Durch­stich im San-Bernar­dino-Tunnel, der zwei Jahre später dem Verkehr über­geben wurde.

Im Schweizer Kanton Grau­bünden gab es damit eine ganz­jäh­rige Stra­ßen­ver­bin­dung hinüber auf die andere Seite des Passes, ins Misox-Tal. Italien lag nun in hörbarer Nähe. Denn südlich des Passes ist Italie­nisch die vorherr­schende Sprache. 

Der Durch­stich im Bernar­dino-Tunnel wurde am 10. April 1965 groß gefeiert. | Foto: Picture-Alli­ance / ullstein bild
Endlich gab es eine ganz­jäh­rige Stra­ßen­ver­bin­dung in den Süden. | Foto: Picture-Alli­ance / ullstein bild

So mancher Käfer, der bisher oben am Pass qual­mend der Anstren­gung erlegen war, gelangte nun weit eleganter ins südliche San Bernar­dino. Die Schweizer Auto­bahn N13 wurde neben dem Brenner und dem Gott­hard eine der wich­tigsten Stra­ßen­ver­bin­dungen ins gelobte Land, wo die Verhei­ßung lag.

Auch 60 Jahre später ist die N13 eine Asphalt­le­bens­ader für all jene, die schnell den ober­ita­lie­ni­schen Seen zustreben. Wer es aber gemäch­li­cher angehen lässt, entdeckt ikoni­sche Orte am Weges­rand. 

Bei Rhäzüns: Kirch­li­ches Kleinod im Wald

Schon nord­öst­lich von Rhäzüns, in der Nähe von Chur am Hinter­rhein, versteckt sich ein Kleinod: Die Kirche Sogn Gieri liegt versteckt im Wald. Sie wurde im 14. Jahr­hun­dert im roma­ni­schen Stil auf den Resten einer karo­lin­gi­schen Saal­kirche gebaut mit hoch­go­ti­schen Fresken an den Wänden. Eine beredte Stille empfängt die Gäste, es ist ein Platz von ganz eigener Atmo­sphäre!


Im Domleschg: Viele Burgen an der Via Mala

Das ganze Gebiet Domleschg ist reich an Burg­ruinen wie die Burgen Ober­ju­valt und Hohen Rätien. Das Gebiet war schon immer ein Durch­zugs­ge­biet. In römi­scher Zeit führte der Weg an der Burg Hohen Rätien in schwin­delnder Höhe vorbei und durch die Via Mala.

Man stelle sich einen kaum gesi­cherten Weg über der Schlucht des tosenden Wassers vor, schwan­kende glit­schige Holz­stege, schwer bela­dene Mulis und Pferde. Jahr­hun­derte waren hier die Säumer unter­wegs, die mit Maul­tieren Salz und Wein über die Pässe trans­por­tierten. Viele bezahlten mit dem Leben.

Erst im 18. Jahr­hun­dert errich­teten Trans­port­ge­sell­schaften “Porten”, kühne stei­nerne Bogen­brü­cken, wie hier im Bild. Eine dieser Brücken hat Goethe in einer Blei­stift­zeich­nung verewigt. 

Wahre Baukunst: Die Festung Ober­ju­valt auf einer Fels­klippe. | Foto: Imago/Zoonar/Pond5 Images
Die „Porten“ waren nicht nur für die Trans­port­ge­werbe eine große Hilfe. | Foto: Imago/Zoonar/Pond5 Images

Zillis: Welt­weit einzig­ar­tige Kirche

Beim „bösen Weg“ war stets auch der Teufel im Spiel, und ihm konnte nur eine Macht entge­gen­ge­setzt werden: Gott! St. Martin in Zillis ist ein beson­ders unge­wöhn­li­cher Gottes-Ort. Von außen ist die Kirche eher unauf­fällig. Aber ihre bemalte Holz-Kasset­ten­decke ist welt­weit einzig­artig. Sie enthält 153 Bilder­fel­dern aus dem 12. Jahr­hun­dert.

Die bemalte Decke der St. Martins-Kirche in Zillis ist welt­weit einzig­artig.

Bevor man die Kirche besich­tigt, sollte man sich unbe­dingt das Museum anschauen, das sehr lebendig diese Bilder­sprache des Mittel­al­ters, das dama­lige Welt­bild, Maltech­niken und Farb­auf­trag erläu­tert. Ein Stich­wort? “Das Böse zeigt sich im Profil”, besagt eine der Erläu­te­rungen. Sie meint, dass in vielen Abend­mahl­dar­stel­lungen Judas im Profil mit Haken­nase und dunklem Haar darge­stellt ist. Auch bei Tier­sym­bolen gilt: Wer sein Profil zeigt, hat die Rolle des Bösen über­nommen.

Die Bilder stammen wohl nicht von einem Kirchen­maler, sondern eher von einem Buch­maler, der seinen Figuren einen unge­heuren Ausdruck und Bewe­gung verliehen hat — die ganze Welt des Mittel­al­ters hier in dieser entle­genen Dorf­kirche vereint. 

Andeer: Schöne Patri­zi­er­häuser

Andeer ist ein schmu­cker Ort, der jahr­hun­der­te­lang den Pass­ver­kehr Rich­tung Splügen- und Septi­mer­pass kontrol­lierte. Der Reichtum des Ortes hat ihm einige sehr schöne Patri­zi­er­häuser einge­bracht. Wenige Kilo­meter südlich endet das gefäl­lige Tal, die Berge rücken eng zusammen und wieder ist es eine Schlucht, die Geschichte gemacht hat.

Roffla-Schlucht: Die rührende Geschichte des Wasser­falls

Bis zum Ende des 19. Jahr­hun­derts war das Gast­haus Roffla die einzige Einkehr an der Straße nach Italien. Die Wirte lebten recht gut, doch dann kam 1882 die Eisen­bahn, der Waren­ver­kehr ließ nach und mit dem Bau weiterer neuer Alpen­straßen versank das Gast­haus in der Verges­sen­heit.

Das Gast­haus Roffla­schlucht wäre aufgrund der Eisen­bahn fast in Verges­sen­heit geraten.

Der junge Mathias Pitschen Melchior sah sich gezwungen, nach Amerika auszu­wan­dern und hart zu arbei­teten. Zufällig traf Mathias auf einen reichen Engländer, der für eine Ameri­ka­tour zu den Niaga­ra­fällen einen Diener suchte. Der junge Schweizer nahm den Job an und war beein­druckt: vom stür­zenden Wasser, aber mehr noch war er verwirrt darüber, dass man mit einem Wasser­fall Geld verdienen konnte – dank der vielen Touristen.

Mathias kehrte mit seiner Frau und den drei Kindern heim — beseelt von einer Idee: Er wollte den Wasser­fall frei­legen, den er als Kind immer gehört hatte. Die Familie begann sich mit Spitz­hacke und schließ­lich mit Spreng­stoff durch den Fels zu bohren. Nach sieben Jahren und 8000 Spreng­la­dungen war es geschafft! Das Gast­haus erfuhr eine Renais­sance.

Splügen: Typi­sche Wals­er­häuser und gewal­tige Bürger­häuser

Es ging immer um mensch­liche Anstren­gungen und um Demut, denn das Leben zwischen hohen Bergen ist beschwer­lich und gefähr­lich. Wie in Splügen, der Welt des Corriere di Lindo. Der Lindauer Bote oder auch mal Mailänder Bote war ein Trans­port­dienst zwischen Lindau und Mailand. Vom Anfang des 12. Jahr­hun­derts bis etwa 1825. Für Waren, Post und später auch Reisende. Etwa 325 Kilo­meter, die man, wenn es gut ging, in fünf Tagen bewäl­tigen konnte.

Im unteren Dorf­teil Splü­gens sind typi­sche Wals­er­häuser zu sehen, im oberen gewal­tige Bürger­häuser. | Foto: Imago/Volker Preußer

Splügen war ein Etap­penort. Wo es keine Waren­nie­der­le­gungen gab, brachte man die Saum­lasten in die eigenen Häuser, der Grund weswegen die Häuser in Splügen so gewal­tige Portale haben. Die lokale Ober­schicht lebte gut vom Handel. Im 18. Jahr­hun­dert zogen einfluss­reiche Fami­lien nach Splügen — die bekann­teste war die Familie Schorsch.

Während im unteren Dorf­teil typi­sche Wals­er­häuser das Bild domi­nieren, sind es im oberen Dorf­teil gewal­tige Bürger­häuser voller Würde. Und hoch oben thront das Hotel Weiss Kreuz, ein magi­scher, zeit­loser Ort, der aufzeigt, was wirk­lich im Leben von Wert ist.

Der San-Bernar­dino-Pass: Magisch schöne Land­schaft

Wir lassen nun den Tunnel außen vor und gelangen in eine der beein­dru­ckendsten Pass­land­schaften der Alpen: als hätte eine Riese Fels­bro­cken über moorige Wiesen, Flechten und Moose gestreut. Das Hospiz auf der Pass­höhe von 2065 Metern hat schon bessere Zeiten gesehen, die Land­schaft ist magisch schön – so wie auch der Talblick von der Burg in Mesocco!


Hier beginnt das Misox, eines der vier italie­nisch­spra­chigen Täler Grau­bün­dens. Zwischen Viga­naia und Spina windet sich die Straße rund 400 Höhen­meter hinab, man gelangt auf die “zweite Etage”. Mesocco, der Hauptort im Tal, liegt nur noch auf rund 750 Metern, gerade einmal 14 Kilo­meter von San Bernar­dino entfernt! Auch hier säumen schöne Bürger­häuser die Straße, der Logen­platz ist natür­lich die Burg!


Die Herren de Sax über­nahmen eine mittel­al­ter­liche Anlage im 12. Jahr­hun­dert und bauten sie zu einer Feudal­burg aus. Im 15. Jahr­hun­dert wurde sie so stark befes­tigt, dass sie als unein­nehmbar galt. Ein Chro­nist bemerkte, dass höchs­tens Aushun­gern oder ein Verräter die Burg zu Fall hätte bringen können. Die Herren de Sax waren es selber, die „die Unein­nehm­bare“ 1525 schleifen ließen, damit die Mailänder sie nicht als Stütz­punkt nutzen konnten.

Der Ausblick über das Tal ist phan­tas­tisch, die Vege­ta­tion wird medi­terran, Feigen­bäume gedeihen, der Talgrund wird breiter und gefällig, das Tal öffnet sich hin zum Ziel, dem Lago Maggiore.

Das Misox: Tal der Grotti

Das Misox ist das Tal der Grotti: ehemals kühle Keller, in denen Wein und verderb­liche Ware gela­gert wurde. Heute sind Grotti einer Strauß­wirt­schaft vergleichbar Eine Karaffe Merlot steht wie durch Zauber­hand auf dem Tisch, ein Weißer gleich dazu: Bianco d ´Oro aus der Kerner Traube. Es folgt eine Platte mit Luga­ni­ghette, Salame und Prosci­utto.

Am Lago Maggiore ange­kommen. Auf die Aussicht einen Weiß­wein!

Eine Versu­chung dieser Misoxer Schinken! Er wird gesalzen, gewürzt und in Wein einge­legt. Dann wird er rund fünf Tage zum Trocknen an die Luft gehängt und schließ­lich reift er 14 Monate bei 75 Prozent Luft­feuch­tig­keit und 12 Grad. Auch der Nost­rano, also der “unsrige“ Käse ist unge­heuer würzig – eine Platte unter der sich eigent­lich der Tisch biegen würde. Deshalb haben die Tessiner wahr­schein­lich solche stabilen Tische!

Der Lago Maggiore: Ein Bugatti geht baden

Noch auf der Schweizer Seite des Lago Maggiore wurde ein Bugatti Opfer des Zolls. Drei sünd­haft teure Bugattis kamen Ende der 1920er Jahre in die Schweiz, gekauft von einem Schweizer Impor­teur. Zwei wurden von den Kunden abge­holt, für einen wurde kein Import­zoll bezahlt. Woraufhin die Zoll­be­hörde in Ascona nach einigen Jahren keine Lust mehr hatte und den Wagen 1937 kurzer­hand im See versenkte.

Das Auto war zuerst ein Mythos, aber Sport­tau­cher entdeckten ihn Ende der 1960er Jahre und dann wurde er ein Hotspot für Taucher. Und im Sommer 2009 wurde er aus dem See gezogen: der schöne Bugatti Brescia Typ 22 von 1925. Geborgen von einer Stif­tung.

Großes Spek­takel: Im Sommer 2009 wurde ein Bugatti aus dem Lago Maggiore geborgen. | Foto: Picture-Alli­ance/Key­stone

Der 22-jährige Student Damiano Tamagno war im Februar 2008 beim Karneval in Locarno zufällig und unge­wollt in eine Schlä­gerei geraten und getötet worden. Die Eltern grün­deten daraufhin eine Stif­tung, die sich der Gewalt­prä­ven­tion bei Jugend­li­chen widmet und betrof­fenen Fami­lien hilft. Und der Vater, Maurizio Tama­gnio, kam auf die Idee den Bugatti im Lago Maggiore zu bergen und damit auch für die Stif­tung zu werben.

Das Auto war natür­lich auch völlig verschlammt. Tauch­freunde von Maurizio Tamagni gruben es quasi aus, der See wollte es nicht loslassen. Am Ende resi­gnierte aber auch ein Bugatti vor einem Kran. Der Bugatti wurde 2010 für um die 250.000 Euro verstei­gert – viel Geld für eine Wasser­leiche und viel Geld für die Stif­tung.



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